WHO-Richtlinie: Wie gefährlich ist Süßstoff fürs Herz?

Viele Lebensmittel enthalten künstliche Süßstoffe. Die kalorienarmen „Sweetener“ sind als Alternative für Zucker beliebt, besonders bei Menschen, die abnehmen möchten. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) rät aktuell von zuckerfreien Süßstoffen zur Gewichtsreduktion ab und verweist unter anderem auf mögliche Gefahren für die Herzgesundheit.

Von Silja Klassen

 

10.08.2023

 

Bildquelle (Bild oben): iStock / gilaxia

Es ist ein gewichtiges Problem: Wenn die Entwicklung fortschreitet wie bisher, könnte bis 2035 mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung unter Fettleibigkeit (Adipositas) leiden. Laut World Obesity Altas 2023 wären mehr als vier Milliarden Menschen betroffen. Für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist damit ein „epidemisches Ausmaß“ erreicht. Die schädlichen Auswirkungen einer kalorien- und zuckerreichen Ernährung sind den meisten Menschen bekannt. Deshalb versuchen viele, ihren Zuckerkonsum zu reduzieren. Die Lebensmittel- und speziell die Getränkeindustrie bieten mittlerweile in vielen ihrer Produkte verschiedene künstliche Süßstoffe als vermeintlich gesündere Alternative zu Zucker an. Der Konsum von Süßungsmitteln nahm deshalb in den vergangenen Jahren immer mehr zu.

Sind Süßstoffe gesundheitsgefährdend?

In ihrer aktuellen, überarbeiteten Richtlinie empfiehlt die WHO, zuckerfreie Süßstoffe nicht einzusetzen, um das Gewicht zu beeinflussen oder das Risiko nichtübertragbarer Krankheiten zu verringern. Ein fortgesetzter Konsum führe nicht zu einer nachhaltigen Gewichtsreduzierung, zudem gebe es nach Auswertung zahlreicher Studien zumindest Hinweise auf ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, so die WHO-Experten. Zu den zuckerfreien Süßstoffen zählt die Gesundheitsorganisation alle synthetischen und natürlichen Süßstoffe, darunter auch Produkte aus der Pflanze Stevia. Unabhängig von den Ergebnissen der Untersuchungen empfiehlt die WHO, den Zuckerkonsum allgemein zu reduzieren.

 

„Der Genuss von künstlichen Süßungsmitteln ist nach wie vor sehr umstritten und wird häufig emotional diskutiert“, sagt Dr. Florian Kahles vom Universitätsklinikum Aachen. „Viele gehen nach wie vor davon aus, dass die Ersatzstoffe Menschen helfen, die unter Adipositas oder Diabetes leiden, weil sie eine Alternative zum Haushaltszucker bieten. Der Süßstoff scheint einen gewissen Vorteil zu haben, denn er wird vom Körper nur zu einem geringen Teil verstoffwechselt und überwiegend unverändert ausgeschieden.“ Doch dieser scheinbar positive Effekt hat seine Risiken: Kardiologe Kahles verweist auf die wachsende Zahl von Vergleichsstudien, die auf eine Herz-Kreislauf-Gefährdung durch Süßstoffe hindeuten.

Welche Hinweise auf Herzkrankheiten durch Süßstoffe gibt es?

„Noch gibt es zu keinem einzigen Süßstoff eine große, sogenannte randomisiert kontrollierte kardiovaskuläre Outcome-Studie, die nachweist, dass ein Zuckerersatzstoff dazu führt, dass Menschen vorzeitig an einem kardiovaskulären Ereignis sterben“, sagt Dr. Kahles. Auch die WHO schreibt in ihrer Richtlinie lediglich von einer geringen Beweiskraft der ausgewerteten Studien. Dennoch gibt es Hinweise auf eine mögliche Gefährdung.

 

Im Fachmagazin „Nature Medicine“ haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Marco Witkowski von der Cleveland Clinic im US-Bundesstaat Ohio eine Untersuchung mit Blutproben von etwa 4.000 Menschen mit einem hohen Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen veröffentlicht. Das Forschungsteam entdeckte, dass Menschen, bei denen es zu einem Herzinfarkt oder einer anderen schweren Herzerkrankung gekommen war, eine erhöhte Konzentration des Süßstoffs Erythrit (auch Erythritol oder E 968 genannt) im Blut hatten. Das Risiko für einen Schlaganfall oder Herzinfarkt nehme demnach durch eine hohe Erythrit-Konzentration im Blut zu, so das Forschungsteam. Experimente zeigten zudem, dass Erythrit die Blutplättchen aktivieren, dadurch ihre Verklumpung auslösen und die Tendenz für Gerinnsel steigern kann. Erythrit gehört zu den zugelassenen Zuckeraustauschstoffen und wird aus fermentiertem Mais hergestellt. Der Süßstoff ist ungefähr zu 70 Prozent so süß wie Haushaltszucker und findet sich zum Beispiel in süßen Light-Getränken und zuckerfreien Kaugummis. „Süßstoffe wie Erythrit wurden in den letzten Jahren immer beliebter, aber ihre Langzeitwirkung muss gründlicher untersucht werden”, erklärt Stanley Hazen von der Cleveland Clinic.

 

Auch die französische NutriNet-Santé-Studie der Pariser Universität Sorbonne mit über 100.000 Teilnehmer gibt Hinweise zur Wirkung von Süßstoff. Viele der Probandinnen und Probanden mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen gaben einen regelmäßigen Konsum von Süßstoffen zu Protokoll: Im Vergleich zu Menschen, die keine künstlich gesüßten Getränke tranken, war die Wahrscheinlichkeit, zu einem bestimmten Zeitpunkt an Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu leiden, bei starken Konsumenten von Light-Produkten um 20 Prozent höher.

Werden Süßungsmittel in Lebensmitteln kenntlich gemacht?

In vielen Ländern, einschließlich Deutschland, besteht keine genaue Kennzeichnungspflicht für den Gehalt von Süßstoffen in Lebensmitteln. „Das ist ein immer wieder diskutierter Hauptkritikpunkt“, so Dr. Kahles. „Bislang war es weltweit gar nicht nötig, anzugeben, welche Süßstoffe in welcher Menge in unseren Lebensmitteln sind.“ Dies erschwere bevölkerungsbasierte Studien, um den Konsum und die Auswirkungen von Süßstoffen auf die Gesundheit zu analysieren. „Gerade bei Fertiggerichten schauen nur wenige Käufer und Käuferinnen genau darauf, was sie eigentlich da essen“, sagt Dr. Kahles. Oft seien die Angaben sehr versteckt. Zudem mache die Vielzahl der Bezeichnungen für süßende Zutaten die Orientierung über den Zuckergehalt schwer.

Was können Süßstoffe möglicherweise im Körper auslösen?

  • Gewichtszunahme: Auch wenn Süßstoffe kalorienarm oder sogar kalorienfrei sind, kann ihr Konsum den Heißhunger auf Süßes steigern. Dies führt unter Umständen zu einer übermäßigen Kalorienaufnahme und könnte langfristig zu Gewichtszunahme und Adipositas beitragen ­– und das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöhen.
  • Stoffwechselveränderungen: Einige Studien haben gezeigt, dass der Konsum von Süßstoffen den Stoffwechsel beeinflussen kann, indem er den Blutzuckerspiegel und den Insulinhaushalt verändert. Diese Veränderungen erhöhen möglicherweise das Risiko für Diabetes und Stoffwechselkrankheiten, was ebenfalls Herz-Kreislauf-Erkrankungen fördern kann. Zusätzlich gibt es erste Hinweise darauf, dass Süßstoffe direkt zu einer Aktivierung von Blutplättchen führen können, wodurch kardiovaskuläre Ereignisse wie Herzinfarkte oder Schlaganfälle begünstigt werden.
  • Auswirkungen auf die Darmgesundheit: Es wird vermutet, dass Süßstoffe das Gleichgewicht der Darmflora stören, was sich ebenfalls negativ auf die Herz-Kreislauf-Gesundheit auswirkt. Eine gestörte Darmflora wurde mit Entzündungen und anderen Risikofaktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen in Zusammenhang gebracht.

Was bedeutet die Richtlinie der WHO zu Süßstoffen für Verbraucher?

„Wir wissen gesichert, dass wir Menschen durchschnittlich eine zu große Menge Zucker täglich essen“, sagt Dr. Kahles. „Aber wir können uns gut an weniger Süßes gewöhnen. Wer zum Beispiel eine Zeit lang auf Zucker im Kaffee verzichtet, merkt schnell, dass er ihn gar nicht vermisst. Im Gegenteil.“

 

Angesichts der WHO-Empfehlung und den Ergebnissen unterschiedlicher Studien ist ein maßvoller Konsum und bewusster Umgang mit Süßstoffen ein wichtiger Baustein für die Gesundheitsprävention. „Die Menschen müssen andere Möglichkeiten in Betracht ziehen, um die Aufnahme von freiem Zucker zu reduzieren, zum Beispiel durch den Verzehr von Lebensmitteln mit natürlich vorkommenden Zuckern, wie Obst oder ungesüßten Lebensmitteln und Getränken“, sagt Francesco Branca, WHO-Direktor für Ernährung und Lebensmittelsicherheit. „Schon junge Menschen sollten die Süße in ihrer Ernährung insgesamt reduzieren.“ Auch viele verarbeitete und scheinbar zuckerfreie Lebensmittel können gesüßt sein, deshalb sollten die Inhaltsangaben sorgfältig gelesen werden.

Diese Seite teilen